Wichtig ist der Unterschied. Oben an der Arena, auf dem Berger Feld, wo die Straßen und Wege nach ewigen Helden benannt sind, und die Flaggen gerade auf Halbmast wehen, weil wieder einer von ihnen gegangenen ist, da sagt man: Auf Schalke. Unten aber, an der Kurt-Schumacher-Straße, wo die ewigen Helden an den Fassaden hängen und die Menschen genau spüren, wenn wieder einer von ihnen gegangen ist, da sagt man: In Schalke.
Das Stadion des Vereins und der Stadtteil liegen vier Kilometer voneinander entfernt.
Zwei Orte, die nicht viel gemein haben außer ihrem Namen. Zwei Orte, die sich eine Vergangenheit teilen, ein Erbe, eine Meile, sich in der Gegenwart jedoch fremd geworden sind.
Hier oben fließt Geld aus Russland, dort unten fließt Geld nach Rumänien. So einfach ist das, so schwer zu verstehen.
Bodo Menze ist an beiden Orten zuhause. Er wurde an der Kampfbahn Glückauf geboren, was immer gleich stolz klingt und erdverbunden. Worte, an den noch Asche haftet. Worte, in denen der Jubel hallt. Sein Elternhaus stand hinter den Mauern des Stadions, er konnte, von der Küche aus, das halbe Spielfeld überblicken. Als die Kampfbahn eingeweiht wurde, 1928, da war sein Onkel einer der Fahnenträger. Schalke gehört zur Familie. Und er selbst gehört zu Schalke, so lange er denken kann.
Bodo Menze ist seit 55 Jahren Mitglied in diesem Verein. Er hat hier seine Kindheit verbracht und sich später um die Jugend gekümmert, 23 Jahre lang. Er war Nachwuchskoordinator, einer der ersten in Deutschland, er durfte den Boden bereiten, auf dem seither reichlich Talente gewachsen sind. Manuel Neuer, Mesut Özil, Benedikt Höwedes und Julian Draxler. Sie sind Weltmeister geworden. Sie haben seine Schule durchlaufen. Die Knappenschmiede, das königsblaue Aushängeschild.
Bodo Menze hat hier, auf Schalke, wo die Männer früher auf Zeche waren, Diamanten geschliffen, sie wurden für Millionen verkauft. Er redet nicht gern darüber, jedes Lob teilt er, gibt es gern weiter, hält sich lieber zurück. Er wollte nie größer sein als die Arbeit, vor seinem Fenster trainieren der Jugendteams. Er sagt Knabenmannschaften dazu, so wie damals an der Kampfbahn. Lange her. Heute kümmert er sich um die internationalen Beziehungen seines Vereins, er reist viel, ist ständig unterwegs. An die Tür seines Büros hat er eine Karte geheftet. Darauf drei Linien gezeichnet, Verbindungen von Gelsenkirchen nach Manchester, nach Moskau, nach Istanbul. Es sind die Reiserouten der vergangenen Champions-League-Saison, die Gegner in der Vorrunde. Sie sind die eigentliche Nachbarschaft des Vereins.
Am Freitag war er in Sevilla, am Montag muss er nach Amsterdam.
Dazwischen aber nimmt sich Bodo Menze Zeit für die Straßen seiner Kindheit. Die Kampfbahn, er ist noch nicht fertig mit ihr. Und so fährt er auch heute, an einem Tag im März, vom Ernst-Kuzorra-Weg zum Ernst-Kuzorra-Platz. Vier Kilometer entfernt. Das andere Schalke.
Es ist ein Ort aus den Schlagzeilen. Schalke, das singen die Anhänger gerne, ist der geilste Klub der Welt. Schalke, das schrieb die VICE vor einiger Zeit, ist der bekannteste Stadtteil Deutschlands.
Er liegt im Schatten seines eigenen Namens. Er ist das Ende vom Lied.
Gelsenkirchen, das hat der ehemalige Verkehrsminister Manfred Stolpe einmal gesagt, hat es heute schwerer als Cottbus. Er meinte nicht den Fußball, er meinte eher den Alltag. Und Schalke hat es gleich schwerer als der Rest der Stadt. 21.000 Menschen leben dort, viele auch von Hartz IV.
Es ist der Rand vom Rand. Härter, kaputter, am arschiger.
Bodo Menze, alte Verbundenheit, würde das gerne ändern.
Gelsenkirchen, hat der Reporter Kai Feldhaus vor 15 Jahren in der WELT geschrieben, kennt doch eh keine Sau, aber Schalke kennt jeder.
Aber, sagt Menze, es war der Stadtteil, der dem Verein den Namen gegeben hat. Nicht andersherum.
Jetzt wartet er dort, die noch immer mächtige Tribüne der Kampfbahn in der Mittagssonne, trägt ein weißes Hemd und einen, natürlich, dunkelblauen Cardigan. Es sind seine Farben, andere passen ihm nicht, das kratzt dann, da kann er allergisch reagieren. Schwarz, sagt er, habe ich gar nicht im Schrank. Ein waschechter Schalker eben, er lacht. Und verteilt zur Begrüßung das Wappen als Anstecknadel. Selbst das Wetter, sagt er, ist heute königsblau. Wie gemalt. Keine Wolken am Himmel. Er deutet in den Himmel, lässt auch das Panorama zu.
Hinter ihm rauscht die Autobahn, A42. Etwa 100.000 Autos am Tag. Sie ziehen vorbei, Schalke nur eine Ausfahrt von vielen, weiße Schrift auf blauem Grund. Aber immerhin stimmen die Farben. Das Schwarzgelb der Bundesstraßen könnte hier niemand ertragen.
Unter dem Verkehr, an alte Mauern gesprüht, grüßen erste Namen, Erinnerungen, Treueschwüre. Hier werden Freunde gefeiert und Tote betrauert. Ruhet in Frieden, steht dort auch. Englische Abkürzungen.
Das Stadion liegt hinter einem Zaun, das erste Tor ist verschlossen. Bodo Menze drückt die schwere Klinke hinunter, vergebens. So schaut er hier erstmal durch enge Maschen auf die einstige Heimstätte, geht ein paar Schritte, lauscht in die Weite. Über dem Ort eine seltsame Stille.
Auf dem Rasen, der längst kein echter mehr ist, stehen um diese Zeit erst wenige Menschen, spielen sich lustlose Bälle zu, ihre Stimmen verweht. Aber Bodo Menze kann das Stadion noch hören. Er schließt die Augen, die Gesänge hinter den Lidern. Das Stadion in alter Pracht.
Er würde gerne den nächsten Schritt gehen, etwas bewegen, wo alles begann.
Nun, durch den Zaun hindurch und über das Spielfeld hinweg, zeigt er auf eine Häuserfront in der Ferne. Grüne Fassade, braune Balkone. Das, sagt er, ist mein Elternhaus.
Von dort hat er noch immer die beste Sicht auf die Dinge. Also steigt er wieder ein und fährt um das Stadion herum, an einem Baumarkt vorbei, rechts gleich neue Malereien, das Schalker Wappen in allen Größen, die Farbe scheint noch zu trocknen.
Vor dem Haus, unter den braunen Balkonen, stehen heute Garagen, die es früher nicht gab. Tore, auf die er nie schießen konnte. Als Knabe, den Ball immer am Fuß.
Sie haben damals, er und die Nachbarskinder, auf die Kellertür gespielt. Vor dem Haus genug Platz, eine Brache, die sie zu nutzen wussten. Bodo Menze gerät hier gleich ins Erzählen, er sieht andere, längst vergangene Wege.
Es war eine tolle Kindheit hier, sagt er und erinnert sich gleich, an die Spieltage, die langen Schalker Nachmittage. Damals haben er und die anderen aus dem Bolz- einen Parkplatz gemacht. Pfiffig wie nix, sagt er. Elf Autos passten hierhin. Und die Jungs kassierten eine Mark für jeden Wagen. Schwarzkohle, sagt Menze, gutes Taschengeld.
Die Wagen standen dicht vor dem Haus. Sie versprachen, gut darauf aufzupassen.
Und verließen den Posten jedes Mal um zwanzig nach Drei. Kletterten über die Mauer zum Stadion. Die Ordner kannten sie alle, auch die mit den Hunden. Daheim hatten sie sich eine Schaukel gebaut. Ein Brett mit Kerben darin, für Seile aus Hanf an den Haken vom Fleischer.
Die hängten sie in den Zaun, kletterten drauf und schauten dann bequem über die Köpfe der anderen. Sicher die besten Plätze im Stadion. Heute, sagt Menze, wäre das Kategorie 1.
Kurz nach dem Abpfiff standen sie wieder hier, als wäre nichts gewesen.
Hinter ihnen brüllte das Stadion. Eine wilde Zeit.
Bodo Menze kennt die Kader dieser Jahre noch auswendig, jeden Torschützen und jedes Ergebnis. Wenn Schalke wirklich Religion ist, dann hat er alle Testamente gelesen. Er weiß, dass an Gott niemand vorbeikommt, außer Libuda. Und er weiß, wie lang vier Minuten sein können, vor allem im Mai. Bodo Menze ist mit diesem Verein durch alle Zeiten gegangen und durch alle Stadien. Stand erst in der Kampfbahn, dann im Parkstadion, dieser zugigen Schüssel und schließlich in der Arena. Er ist in Schalke geboren und auf Schalke erwachsen geworden. Aber, sagt er, die beste Phase war hier. Glückauf, die Jugend. So lange her.
1973 ist der Verein weggezogen. Es war das Jahr, in dem Schalke von Schalke verlassen wurde.
Jemand hat Sonnenblumen auf die Fassaden gemalt, sie scheinen mit der Zeit zu verwelken. Und Bodo Menze läuft auf die andere Seite des Hauses, auf die Kurt-Schumacher-Straße, die so genannte Schalker Meile.
Er möchte jetzt zeigen, was hier mal war, um zu erklären, was nicht mehr ist.
Diese Straße als Beispiel, auch sie sah mal anders aus.
Hier, sagt er, gab es eine Pommesbude, einen Metzger, einen Tapeten- und einen Blumenladen.
Der Gehweg ist schmal, in seinem Rücken rauscht der Verkehr, bedrohlich nach.
Aber Bodo Menze lässt sich nicht stören. Ich kenne den Bordstein, sagt er.
Dann geht er, andächtig fast, an den Schaufenstern vorbei, die nichts mehr ausstellen, nichts mehr anzubieten haben. Im Leerstand erblindet.
Es ist emotional, sagt er. Atmet durch. Es tut weh, sagt er. Und wirkt plötzlich falsch hier, fehl am Platz, in seinem Hemd, dem Cardigan, wie ein Politiker, der einen Krisenherd besucht, einen Absturzort, ein Erdbebengebiet. Bodo Menze steht hier, Kurt-Schumacher-Straße, auch in den Trümmern seiner Erinnerungen. Als wäre das Elternhaus mit einem Mal weit weg von Zuhause.
Vor einem der Fenster, auf der anderen Seite der Straße sitzt einer, in den Händen eine Flasche aus braunem Glas, und schaut der Straßenbahn hinterher, an einer kahlen Wand gegenüber lungern Männer in Jogginghosen, misstrauische Blicke, beobachten die Straße als würde noch etwas kommen warten, eine Lieferung vielleicht. Sie sprechen nicht, schauen nur.
Daneben wurden die Rollläden heruntergelassen, vor einigen Jahren bereits. In den Schriftzügen fehlen einzelne Buchstaben, niemand kommt, um zu lösen.
Das, sagt Menze schließlich, ist alles herabgekommen. Und es klingt wie eine Diagnose. Als würde er einem Sterbenden den Puls fühlen. Ein Ort in Leichenstarre. Bodo Menze würde ihn gerne wiederbeleben, die Schalker Meile noch mal zu dem machen, was sie mal war. Eine Hauptschlagader, eine Herzensangelegenheit. Eine königsblaue Allee. Sie führt von hier bis zur Arena, über die Emscher hinweg, sie könnte alle mitnehmen, das Alte mit dem Neuen verbinden.
Am Spieltag, alle zwei Wochen, ziehen die Menschen über die Kurt-Schumacher-Straße, dann fließt das Bier, dann werden die alten Lieder gesungen. Aber die Menschen bleiben nicht, sie steigen am Ende in ihre Autos und fahren wieder nach Hause, andere Kennzeichen, selbst das Heimspiel eine Reise. Nach dem Abpfiff kehrt die Stille zurück, lauter als jeder Jubel.
Schalke, sagt Menze, ist ein Durchgangsort geworden.
Schalke, da muss man jetzt durch.
Es ist ein lost place, sagt er, aber wir wollen das ändern.
Wir, das sind Schalker wie er, Mitstreiter, die sich dem Verfall entgegenstellen.
Bodo Menze hat auch hier die Namen dabei, teilt das Lob, ist weiß Gott nicht allein. Olivier Kruschinski, Alex Jobst, die Stiftung Schalker Markt. Sie versuchen, die Leere mit Tradition zu füllen, die Vergangenheit des Vereins, sie scheint dafür gerade groß genug. Kreisel und Knappen, Eurofighter und Pokale. Deshalb hängen hier auf der Meile die bekannten Gesichter. Stevens und Thon und Nemec und Sand, am Elternhaus Assauer und Gerd Rehberg, die alten Schalker in Schwarzweiß. Deshalb kleben blaue Buchstaben auf sonst grauen Fassaden. Die einzige Farbe, die man hier tragen sollte. Und im ehemaligen Kiosk von Kuzorra, der dann der ehemalige Kiosk von Libuda war und heute der ehemalige Kiosk von Pele Nowak ist, wurde ein Ort der Begegnung eingerichtet. Es sind königsblaue Tropfen auf einem heißen Pflaster.
Damals, sagt Menze, war viel Leben hier. Und zwischen dem Bahnhof Schalke-Nord und der Berliner Brücke gab es 25 Kneipen. Da haben alle für Schalke gelebt und am Samstag war die Hölle los.
Wenn du da in jedem Laden einen kurz und einen lang genommen hast, konntest du am Ende der Meile gleich ins Taxi steigen und nach Hause fahren, jeder Schalker so voll wie die Straßenbahn.
Die Kneipen, auch sie sind verschwunden. Eine nach der anderen.
Nur eine gibt es noch. Bosch, gleich am Stadion.
Die, sagt Menze, kenne ich mein ganzes Leben schon.
Bei Bosch wurde die Zeit konserviert, im Schnaps eingelagert wie in Formaldehyd. Dort, an den Wänden und in den Geschichten der Menschen, hat etwas überdauert.
Wenn Schalke tatsächlich Religion ist, dann ist Bosch die letzte Kapelle. Ein Ort der Andacht tatsächlich. Und Bodo Menze geht durch die Tür, streift seinen Nachnamen ab, dahinter kennen sie ihn. Mensch, Bodo! Schön, dass du da bist.
Hinter dem Tresen steht Ronny, der Wirt. Ein Langer, der Kurze ausschenkt und gleich die richtigen Biere zapft, er hat alles im Blick. Die Tür und die Gäste und weiß noch, was sich gehört. Über der Schulter das Geschirrtuch, über den Köpfen die Andenken der Jahre. Diese Kneipe, so muss das sein, ist natürlich ein Museum mit Ausschank, begehbare Rückschau. Ein Knappenkabinett, in dem die Uhren königsblau gehen, auch wenn dann wieder ein paar Sekunden fehlen, wie damals im Mai.
Neben den Fotografien hängen die großen Duelle als Schals an der Wand. Und rechts am Fenster ist Kuzorras Stammplatz, mit Plakette versehen, wer sich traut, darf sich setzen. Er kommt heute nicht, er ist sowieso immer da. Ehrengast, vor allen anderen.
Es ist gerade halb Drei und am Tresen sitzen drei waschechte Trinker, würfeln und spülen nach, verstecken sich hinter ihren Zigaretten.
Menze stellt sich dazu, ganz locker, das Pils steht schon dort.
Und er entdeckt, im Regal neben den Gläsern, eine weiße Karte. Darauf Rudi Assauer, über der Schulter den Pokal, im Mund die Zigare. Eine Ikone, die Einladung zur Trauerfeier.
Auch er ist nicht mehr, sagt Ronny. Jetzt gehört er dazu, jetzt hat er sich dazu gesellt.
Und so beginnt eine Unterhaltung über Leben und Tod. Ein Abtasten der Zustände.
Ronny fragt und Menze antwortet.
Manni? Der ist noch fit.
Willi? Dem geht es nicht gut.
Und Heiner? Auch nicht so richtig.
Ronny schüttelt den Kopf. Ker, wir sind die letzten Mohikaner.
Und Menze nickt. Das hier ist auch eine Inventur der Zeitgenossenschaft, eine Familienaufstellung.
Dann stimmen die Trinker mit ein.
Solche Leute, sagt der erste, kannste nicht ersetzen.
Ein Schalker Urgestein, sagt der daneben, so einen kriegst du nicht wieder.
Ein Original, sagt die einzige Frau. Als wäre alles andere da draußen nur eine Fälschung.
Ihre Gespräche Gedenkminuten, die zu Stunden werden können. Darin die Männer, die zu früh gegangen sind und die Meisterschaften, die nie gewonnen wurden. Das lange Schweigen, weil doch schon alles gesagt ist, von jedem so oft.
Diese Kneipe, sie ist ein Schutzraum, mit dem Samt der Historie ausgeschlagen. Mit Flaggen und Schals und Plakaten gedämmt. Es ist ein Ort, an dem ein Toter einen Stammplatz hat und seine Enkel an jedem Wochenende Hochamt feiern.
Ein Ort aber auch, an dem die Gegenwart einen eigenen Raum hat.
Er ist rot geschmückt. Für Teutonia. Das andere Schalke.
Kreisliga A, sie spielen am Sonntag. In roten Trikots. Graues Mittelfeld, der Gegner steht kaum besser da, Flüche peitschen über den Platz, Grätschen sind keine Ausnahme. Die letzte Meisterschaft hier ist 60 Jahre her, der Rasen aus Plastik. Oben auf der Tribüne stehen noch welche, die sich an damals erinnern, Zeche und Flutlicht. Ein Dutzend vielleicht, sie werden nicht mehr.
Einer von ihnen ist Peter Kajan, der erste Vorsitzende, auch er ist zuhause hier, Schalke Nord, auf Kohle geboren. Kennt Bodo Menze, ehemalige Nachbarschaft. Er kann jetzt ein bisschen erzählen, vom Wandel der Zeit. Früher, sagt er, hatten wir hier eine Zeche, hatten wir eine Chemie- und eine Glasfabrik, da waren die Leute an den Ort gebunden, weil sie hier Arbeit hatten.
Die Maloche, sie hat die Leute zusammengeschweißt. Da waren die Spieler tatsächlich Spieler von hier, Kumpel in kurzen Hosen.
Schalke Nord, Kajan nennt es: das Dorf. Es klingt wie ein Märchen. Es nimmt kein gutes Ende.
Heute, sagt er, gibt es vielleicht noch zwei oder drei, die aus’m Dorf kommen. Der Rest sind Zugereiste. Und er meint die Jungs aus Oberhausen, Essen oder Recklinghausen, die den Bezug nicht mehr haben, nach Abpfiff nicht in die Kneipe gehen, zuhause eine andere Sprache sprechen.
In den Jugendmannschaften von Teutonia haben heute 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Ihre Eltern sind als Gastarbeiter aus der Türkei gekommen, als Flüchtlinge aus dem Libanon, auch schon wieder dreißig Jahre her. Hier spiegelt der Verein den Stadtteil, seine Zahlen und seine Probleme. Hier hat der Verein eine Aufgabe.
Die Integration, hatte Bodo Menze gesagt, fängt im Fußball an.
Wir versuchen viel, sagt Kajan, aber irgendwann ist das Limit erreicht.
Ein Vereinsleben wie früher, das gibt es nicht mehr.
Zurück bleiben die Männer, die schon als Kinder am Platz standen.
Ein Häufchen, das vom Elend berichtet.
Sie kennen die Niederlagen, alles schon gesehen, jeder Flaschenboden ein Fernglas. Nehmen das Ergebnis zur Kenntnis. Heute spielt die Mannschaft ohne Trainer. Er ist Polizist, er wird woanders gebraucht. Sie wissen, dass es nicht gut ausgehen wird.
Das Dorf hat wenig Chancen.
Dann stellt sich noch einer dazu, auch er gehört zu Teutonia, stellt sich dazu und erzählt von den neuen Nachbarn, den Familien aus Rumänien.
Erzählt von den Dingen, die aus den Fugen geraten sind.
Die Rumänen, sie leben in den Schrottimmobilen des Stadtteils, haben sich in den Lücken eingerichtet, einige tausend seit einigen Jahren. Sie dürfen nicht arbeiten, sie sprechen kaum Deutsch.
Plötzlich wieder fremde Gesichter zwischen den vertrauten Portraits auf der Meile.
Seit die Rumänen da sind, sagen die alten Schalker, vermüllen die Straßen. Letztens erst ist eine Couch auf die Straße gefallen, krachend auf dem Asphalt zerbrochen, da wurde eine halbe Wohnung durch das Fenster entsorgt. Blieb dann dort liegen.
Seit die Rumänen da sind, sagen die alten Schalker, verrohen die Sitten. Sie bleiben am Abend jetzt lieber zuhause. Sie fühlen sich fremd im eigenen Dorf.
In den Fassaden, die zur Kulisse verkommen, Drohungen zwischen den Zeilen.
Häuserkampf, hatte die ZEIT das genannt. Die neue Wut in den Straßen, die Angst davor, sich plötzlich gegenüber zu stehen.
Und so liefert Schalke an schlechten Tagen auch die Bilder zu den Vokabeln der Abendnachrichten. Überfremdung, Parallelgesellschaft, Osterweiterung.
Es sind Konflikte, die weit entfernt begonnen haben, hinter dem Zaun und auch hinter der Brücke, aber nun doch ihren Weg hierher finden. Ins Stadion, in den Verein.
Vor ein paar Wochen, so erzählt es einer der Männer, haben die Kinder der Rumänen hier Steine geschmissen. Seitdem haben sie Hausverbot bei Teutonia.
Die Rumänen, sagt er, machen vieles kaputt.
Er will seine Ruhe haben, dann schweigt er.
Wo früher auf Asche gespielt wurde, ist heute die Erde verbrannt.
Haben wir was gegen Ausländer, fragt ein anderer später, auf dem Kopf eine blaue Mütze, in der Hand ein lauwarmes Veltins, gibt sich die Antwort dann selbst: Natürlich, Handgranaten. Er lacht und schwankt, der Blick lange schon glasig. Bevor er geht, spuckt er demonstrativ die Stufen.
Integrationsverein, sagt er noch, verächtlich.
Dort, wo die Häuser leer stehen, ist auch wieder Platz für Parolen.
Dann ist das Spiel vorbei.
Bei Bosch am Tresen sprechen sie nicht gerne über die Rumänen, die neuen Nachbarn.
Schwieriges Kapitel, sagt Ronny, der Wirt.
In die Kneipe kommen die nicht.
Das sind ja Wirtschaftsflüchtlinge, sagt er. Verstehste?
Und Bodo Menze gibt noch eine Runde aus, für die Herrschaften und für die Dame, dann verlässt er den Laden, draußen gleich wieder Himmel.
Er geht ein paar Meter, rechts die Meile, links das Stadion.
Der Stadtteil, sagt er schließlich, ist fremd geworden. Das ist auch eine Wahrheit.
Und es liegt Wehmut in diesen Worten. Die traurige Schwester der Nostalgie.
Bodo Menze weiß um die Kämpfe, die hier ausgetragen werden, zwischen den Häusern seiner Jugend. Um den emotionalen Leerstand, der die Leute lähmt. Unübersehbar.
Die Leute, sie stehen hier und schauen die Straße hinunter, als würden sie auf etwas warten, auf einen Sheriff vielleicht, der endlich für Ordnung sorgt. Aber es passiert nichts. Es geht einfach immer so weiter. Die nächste Straßenbahn kommt, der nächste Laden macht dicht, das nächste Bier wird gezapft, am Samstag spielt Schalke.
Mein Traum ist es, sagt Bodo Menze nun, dass hier wieder Leben in die Bude kommt.
Damit Omma und Oppa und auch die Tante hier wieder gemeinsam stehen.
Damit das Herz wieder schlägt.
Nachts, immerhin, leuchtet es schon. Nachts werden die Tribünen der Kampfbahn in königsblaues Licht getaucht. Vor kurzem wurde das Stadion beflaggt. Bald soll das alte Eingangstor wiederaufgebaut werden, Stein für Stein. Eine für alle offene Tür.
Es sind zaghafte Symbole. Aber irgendwo muss man ja anfangen.
Wir wollten ein Zeichen setzen, sagt Menze, wollten den Ort in Erinnerung rufen.
Schalke, soll das heißen, hat Schalke nicht vergessen.
Auf und in. Zwei Orte, sie gehören am Ende zusammen.
Ohne den Verein, sagt Bodo Menze, wird es der Stadtteil nicht schaffen.
Ohne den Stadtteil ist der Verein nur ein Fußballklub.
Dann fährt er über die Emscher zurück nach Europa.
Fotos: © Philipp Wente / www.philippwente.com