Stadtschreiber "Das andere Schalke" © Philipp Wente
Das andere Schalke
9. April 2019
Herr Glückauf. www.stadtschreiber.ruhr.de
Herr Glückauf
18. Juni 2019

Der große Preis

Auch Xavier vom Monarchenhügel ist nach Gelsenkirchen gekommen.

Und Betty Boo vom Märchenland. Und Ian von der wilden Meute.

Und Quintana vom Badenermoor. Und Anna-Marie vom Meatloaf.

Und Frankel vom rauhen Meer. Und First Lady of Villa Whippet.

Die ganz großen Namen.

Die Belgier und die Holländer und ihre Afghanen.

Gipsy Yolo und No more Drama und Pink hot lady.

Moves Like Jagger und Alabastas Jacki O.

Und natürlich auch Natalia Klytsiko Twirlwinds, die vielleicht schnellste Hündin der Welt.

Das hier, sagt Eric, ist absolute Weltspitze. Gelsenkirchen, viel besser geht es ja kaum.

Er sitzt dort am Hang und hat die Rennbahn im Blick, hört die Zeiten, gerade gemessen. Die Hundertstel dazwischen, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, noch mal geordnet von der Stimme, die aus den Lausprechern dröhnt. Blechern und genau.

Besser Sie setzen sich jetzt, sagt die Stimme. Halten Sie sich fest. Und für die Gäste nochmal auf Englisch. Better you hold yourself, better you have a seat.

Neuer Rekord, sagt Eric, denke ich mal.

Schaut dann rüber zum Häuschen des Rennleiters, Ampel und Messanlage. Wo es noch staubt, als würde etwas in der Luft liegen.

Er kennt den Ablauf genau, weiß um die Favoriten und um die Kräfte dahinter. Die Anstrengung der Vorbereitung, Runde für Runde. Sitzt dort neben dem Vater, Klappstühle aus weißem Plastik, 60 Rennen hat er bisher gesehen. Die Vorläufe, das staubige Ausscheiden am Vormittag. Es ist jetzt etwa halb zwei. Die großen Läufe kommen erst noch. Die Greyhounds, die Whippets, die Besten. Darauf wartet er hier, sein Vater daneben. Immer wieder tauschen sie Gesten, ein kurzes Nicken, das den Experten vom Laien entfernt. Es entgeht ihnen nichts.
Eric, er ist nur Zuschauer heute. Das schmerzt ihn am meisten. Verdammte Rolle, bleierne Untätigkeit. An anderen Tagen stünde er doch mit seinem Hund dort unten im Sand, die Muskeln gespannt vor einer der Boxen. An anderen Tagen würde sein Tier dort unten mit den anderen rennen, immer dem Hasen nach, der sie an der Nase rumführt.
Diesmal nicht. Sein Hund ist verletzt. Und Eric sieht die Bahn, auf der ein Traktor den Sand wässert, das Geläuf ebnet, für die später genau richtige Härte. Sieht keine Tiere in diesem Moment. Hat jetzt also ausreichend Zeit, das in Ruhe zu erklären. Gelsenkirchen, die Hunde. Eine Welt für sich, sagt er und lacht, als hätte er damit schon zu viel verraten.

Das hier, sagt Eric, ist weltweit eine der besten Anlagen. Vollsandbahn, Bewässerungslage, auf den Zetteln am Aushang immer das volle Programm. Gelsenkirchen, hier klingt das noch gut, international und erfolgreich. Hier, großer Preis, ist es eine Auszeichnung, die sich die Leute auf T-Shirts drucken, schreibunter Stolz. In Comic Sans oder gleich in Fraktur. Gelsenkirchen, sie waren dabei.

Hinter den Hecken am Hang, auf Wiesen und auf Kies, stehen die Wohnmobile der Gäste, angereist aus den Nachbarländern, aus Belgien, Tschechien und sogar aus Ungarn. Fahrendes Volk. Sie führen die Hunde unter den Blicken der Konkurrenten spazieren. Für das erste Kompliment, den heimlichen Neid, hat sich die Fahrt allein schon gelohnt.

Am Ende bekommt auch das schönste Tier einen Preis.

Der Windhund, so hieß es früher einmal, ist das Rennpferd des kleinen Mannes.

Aber, sagt Eric, schau dir mal die Wohnmobile an. Halbe Schiffe, die im Schatten vor Anker liegen. Das sind keine einfachen Leute. Die Hunde, die Rennen, die großen Preise, das muss man sich leisten können. Ein richtig schnelles Tier, gute Verpaarung, gute Gene, kostet auch mal 20.000 Euro.
So einen, sagt Eric, kriegst du nicht mal eben im Tierheim. Das sind hochgezüchtete Sportler. Das sind echte Athleten. Die laufen ihre Runde, 355 Meter, in unter 24 Sekunden. Da kommt kein Usain Bolt hinterher.

Und doch kann man hier, auf dieser Bahn, nicht viel mehr gewinnen als das nächste Rennen. Preisgelder gibt es keine, Wetten sind nicht erlaubt, der Sieger bekommt eine Decke, der Besitzer Schokolade dazu.

Du kannst hier nichts dran verdienen, sagt Eric. Du steckst immer nur rein.

Das Rohfleisch, das Trockenfutter, Meldegebühren und Tierarztkosten.

Eric führt ein sparsames Leben, hat keine Kinder, keine eigene Familie. Er hat die Hunde. Sie zählen nicht zu den Siegern. Sein Rüde ist ein bisschen zu klein für die Rasse, in der er läuft. Zwei Zentimeter, sagt Eric. Das ist die Höhe, das holt er nicht auf. Viermal war er schon hier, Gelsenkirchen, einmal kam er als Sechster durchs Ziel. Aber, sagt Eric, darauf kommt es nicht an.
Dann geht er ein Stück, durch die Hecken, dreht selbst eine Runde. Auf dem Parkplatz, hinter den Wohnwagen, haben ein paar Händler ein paar Stände aufgebaut. Dort gibt es den Rest, die Zusätze und die Präparate, den Schmuck, glänzendes Fell. Pflege für die Zähne und Schutz gegen Zecken. Bachblüten gegen die Angst oder die Trauer. Leinen und Taschen, darauf Welpengesichter. Und würden in einem der Zelte nun Hunde mit Hunden Karten spielen, es würde doch niemanden wundern. Nur das Wetten darauf wäre verboten. Und an zwei Ständen dahinter fließt das Bier, bekommen auch die Menschen ihre Wurst wie zur Belohnung. Ihre T-Shirts zeigen an, wo sie schon waren, was der Hund alles kann. Sie führen den Stolz an der Leine.

355 Meter in unter 24 Sekunden.

Die Hunde indes tragen Decken in verschiedenen Farben. Sie erzählen von der Güte des Tieres, von der schon gelaufenen Zeit. Signale der Stärke. Die rote Decke etwa gehört immer dem Favoriten, dem schnellsten in einem Rudel aus Rivalen. Die rote Decke ist das gelbe Trikot, das grüne Jackett. Der in Rot, sagt Eric, geht in der Regel als erstes durchs Ziel. Er hofft heute, wie die meisten, auf die Ausnahme. Auf einen Underdog, so sagt man ja schließlich. Die Decke in Streifen, blau und weiß, damit man auch den Letzten noch deutlich erkennt.

Dann beginnen die Endläufe.

Jetzt, sagt Eric, geht es Schlag auf Schlag.

Am Start, hinter Flatterband stehen Tiere und Menschen in Paaren zusammen, sechsbeinige Aufregung. Dort zerren die einen, hängen nervös im Geschirr, Leinen und Nerven gespannt. Und die anderen sind plötzlich ganz still. Manche bellen, sagt Eric, andere winseln. Aber die besten machen gar nichts. Daran erkennst du den Champion, an der Ruhe so kurz vor dem Rennen, weil doch alles andere nur unnötig Kraft ziehen würde. Kraft, die nachher fehlt auf der Bahn.

Dann legen die Besitzer den Tieren die Maulkörbe an, streicheln zitternde Flanken, tragen sie in die Boxen. Warten dahinter auf das letzte Signal, die Flagge, das Motorengeräusch. Die Hunde wissen, was kommt. Das Hetzobjekt, sagt Eric. In der Mitte läuft die Maschine, eine umgebaute Kettensäge auf Schienen, sie zieht den Hasen, den falschen, an einem Seil durch den Sand. Bei über siebzig Kilometern pro Stunde, weil sie schneller sein muss als die Meute.
Und die Hunde, die Gitter nun offen, rasen dahin. Folgen dem Hasen und ihrem Instinkt. Und die Menschen dahinter brüllen. 355 Meter in 23 Sekunden, die Maschine hält an, die Hunde werden mit festem Griff von der Rennbahn getragen, der Hase liegt unerreichbar im Sand. Der Sieger wirft sein Geschirr in die Luft. Das Rennpferd des kleinen Mannes.

Und einer mit gelber Decke dreht um, die große Verwirrung, läuft dem Feld plötzlich entgegen, wird schließlich von der Stimme disqualifiziert.

Und eine Hündin in Blau verletzt sich noch auf der Gerade. Vielleicht nur ein Krampf, sagt die Stimme und ruft nach dem Tierarzt.

Und Nightflash Lucky Star wird zweiter bei den Senioren. Acht Jahre alt schon. Imagine that, sagt die Stimme. Stellen Sie sich das doch mal vor.
Und Abbigail van de Sanpollia bekommt einen Sonderpreis für Schönheit und Leistung.

Und schließlich gewinnt ein Underdog unter Streifen. Ein Afghane, mit großem Abstand dazu.

Das sieht man nicht oft, sagt Eric, sichtlich beeindruckt. Wehmut auch in der Stimme.

Im nächsten Jahr wird er wieder hier sein. Gelsenkirchen, besser geht es ja nicht. Wird seinem Hund die Decke umlegen, eine gestreifte wahrscheinlich. Die Farben des Außenseiters, wird ihm die Flanke streicheln und hinter der Box warten, bis der Motor anspringt, sich die Gitter öffnen und das nächste Rennen beginnt.

355 Meter in 22 Sekunden.

Die Decke in Rot.

Davon träumen hier alle.

Windhunde, sagt Eric, das ist ein Lebensinhalt. Wenn man so bekloppt ist wie ich.