Es geht jetzt also erstmal um Helge Schneider, hier in der Mülheimer Fußgängerzone. Weil man diesen Ort, im Ankommen, im Zurechtrücken der Perspektive, durch seine Augen sehen muss, unmittelbarer Schulterblick. Sagen wir mal 40 Jahre zurück. Da steht dann ein junger Mann mit Gitarrenkoffer, am Anfang von allem, noch kein Katzeklo, keine Herrentorte, vielleicht noch nicht mal die Perücke, die er ja heute vor allem trägt, um sich die Welt vom Hals zu halten. Stattdessen einfach nur schöne graue Wirklichkeit. Die Straßenbahnen, die hinter ihm halten, werben für Jägermeister oder für Wicküler Bier, wunderbar würzig, aus der Flasche so gut wie vom Fass, als würden sie die Männer direkt in die Kneipen bringen, auf den Fahrscheinen anschreiben lassen. Sie sind beige oder gelblich, die Straßenbahnen und die Männer. Deichmann gibt es schon, Agfa gibt es noch.
Und der junge Mann mit dem Gitarrenkoffer, der vielleicht auch nur eine Aktentasche war, übervoll mit Zetteln, den ersten Zeilen für spätere Lieder, den Ideen für eine Welt, die hinter der Ruhr auf ihn warten sollte, läuft durch die Fußgängerzone und schaut genau hin, sieht die Menschen vorbei ziehen. Er sucht etwas, lauert dort, auf die Gesten und Gestalten, die Sätze, die gesprochen, die Wörter, die getauscht werden, Silbe für Silbe. Die Gespräche, die im Vorübergehen entstehen, die sich so zugeworfen werden. Er braucht sie, nichts darf ihm entgehen, keine Silbe zwischen den Fingern hindurch. Er will ganz genau hinhören. Und dieses Hinhören, das lernt er schnell, geht am besten, wenn er dabei selbst stillsitzen, mit der Umgebung verschmelzen kann. Bloß nicht zu viel Bewegung. Also geht er dorthin, wo die Männer und Frauen sich treffen, kurz innehalten, den Korb abstellen, den Hund anleinen, sich mit Stofftaschentüchern den Schweiß von der Stirn tupfen. Dorthin, wo der Kaffee 30 Pfennig kostet und man es auch im Winter gut aushalten kann. Der junge Mann setzt sich in den Eduscho, in der Luft dieser Fernwehgeruch frisch gemahlener Bohnen. Es gibt Kaffee dort, schwarz oder bunt. Milch, Zucker, Socken gibt es noch nicht. Und auch keine Thermounterwäsche. Hier, im angenehmen Dunst des Vormittags, lauscht er hinein in den Alltag der anderen, in dieses Hinundher der Hausfrauen und Pensionäre, die an einem Freitagmittag schon hier sind oder noch, die dazugehören, immer gerade vom Einkaufen, man sagt wohl noch Einholen dazu, Kartoffeln in Stoffnetzen, Milch in der Flasche, die Hörzu unter dem Arm. Sie erzählen mal vom Kulenkampff und mal von Ente Lippens, je nachdem, welches Spiel am Wochenende gespielt wurde.
Einer hatte sicher gewonnen.
Die Männer tragen glühende Kohlen im Mund, die Frauen noch heißere Eisen, den Klönschnack der Nachbarschaft, das Thekentrommeln. Einige stottern, andere wischen durch ihre Sätze, als müssten sie ihre Spuren beseitigen. Das ist natürlich, hier im Eduscho, eine einzige Aufführung, das große Theater, von der Gewohnheit choreografiert. Und der junge Mann steht mittendrin, die Ohren offen, sammelt, schöpft ab, lernt die Figuren auswendig, die genau gesetzten Pointen der ungleichen Duette, diesen Text, den er später auf jede Bühne bringen wird. In den Liedern und den langen Minuten dazwischen, in denen der eigentliche Zauber liegt. Das Ebennichtgesagte.
Eduscho-Studium, hat Helge Schneider diese Zeit später in einem Interview genannt. Die Fußgängerzone, der kleine Laden mit dem Kaffee, der tatsächlich beste Hörsaal. Auch der traurigste Arbeiter noch ein geduldiger Lehrer. Echte Milieustudien. Und in einem Gespräch, das wir vor einigen Jahren in Berlin geführt haben, erzählte er die Geschichte vom Herrn Alexander. Der, sagte Helge Schneider, war 95 Jahre alt, hatte Morbus Bechterew und den Kopf soweit nach unten, dass er verkehrt herum Kaffee trinken musste. Da sabberte er natürlich immer. Einmal dann stellte sich eine junge Frau daneben und aß so ein Teilchen, einen Streuselkuchen. Da guckte sie der Herr Alexander, 95 Jahre alt, vom Leben gebeugt, nur von unten an und sagte: „Wenn ich das jetzt essen müsste, dann würde ich brechen.“ Das sind so Momente, sagte Helge Schneider, die man nie vergisst.
Klar also, dass man in Mülheim erstmal in die Fußgängerzone muss. Leute gucken, bisschen reinhören in diese neue Stadt, ankommen in den Gesprächen und Gesten ihrer Bewohner.
Auch wenn sie sich natürlich verändert hat, in den 40 Jahren seitdem.
Die Straßenbahnen von damals gibt es nicht mehr, die Männer von damals gibt es auch nicht mehr und Eduscho heißt jetzt Tchibo. Was soll man machen.
Aber immerhin bekommt man noch frischen Kaffee hier an der Ecke, zwischen Geschäften, die Diva heißen oder Xenos, und Kleider aus Plastik verkaufen. Die Haute Couture der Fußgängerzone, der ziemlich laute letzte Schrei.
Hier gibt es nun zwei Läden für Kaffee, eine Teestube, die von Weitem aussieht als wäre sie mit Samt und alten Zeitungen ausgeschlagen und eine Tchibo-Stube, die den Namen Mr. Baker trägt, was nach Jazz klingt und so als müsste man den Laden höflich siezen, aber auch deshalb völlig irreführend ist, weil bei Mr. Baker natürlich noch nie selbst gebacken wurde.
Diese Läden, nur 30 Meter Luftlinie voneinander entfernt und nur vom Knick der Nebenstraße getrennt, könnten also unterschiedlicher kaum sein. Allerdings hat man von beiden einen hervorragenden Blick auf die Fußgängerzone, das Vorüberziehen der Menschen.
Und darum geht es ja, also hinsetzen und mal schauen, was man hier, in der Fußgängerzone lernen kann über die noch fremde Stadt. Sehen, was sie preisgibt, wenn man sie nur lang genug anschaut. Was sie so zu erzählen hat, das alte Waschweib Innenstadt.
So eine Fußgängerzone, erster Gedanke beim Kaffee, ist natürlich ein durch und durch demokratischer Ort, der vielleicht letzte Raum, in dem noch jeder Mensch erlaubt ist, er einfach so stattfinden darf. Alter, Herkunft, Religion, sind erstmal egal, dafür werden ihre jeweiligen Erkennungszeichen umso aufreizender zur Schau gestellt.
Du kannst das alles machen, hatte Helge Schneider damals noch gesagt, doch die Städte sind irgendwie leer, die Leute sitzen zu Hause. Sie gehen nicht mehr in Eduscho, weil es Eduscho nicht mehr gibt und bei Tchibo der Kaffee zu teuer ist.
Oder irgendwie so was.
Er hatte, das muss man so, sagen Unrecht. Diese Stadt, Mülheim an einem Freitagmittag im Herbst, ist randvoll mit Menschen. Sie strömen, als wären sie vor ihren Leben geflüchtet, von der Enge der Wohnung auf die Straße getrieben, oder schon unterwegs zu etwas Größerem, in die Kirche vielleicht oder ins Stadion, aber sie tragen keine Uniformen, keine Kutten, sie tragen nur immer wieder den nächsten Einkauf nach Hause. Ein echtes Wuselbild, in dem sich der Beobachter verirren kann. Dabei so bunt wie der Kaffee.
Im Teehaus jedenfalls, wo es jetzt auch Matcha-Latte für 4,50 Euro gibt, trifft sich an diesem Tag eine etwas in die Jahre gekommene Bohème, der ergraute Pferdeschwanz, der als Andenken daran getragen wird, dass man Woodstock um eine Generation verpasst aber immerhin noch die Stones in der Westfalenhalle mitgenommen hat. Die Herren, zwei, sind Künstler hinter Sonnenbrillen, sie drehen Zigaretten aus angeblichem Öko-Tabak mit Indianersiegel, rauchen dann Kette. Und sprechen, kein Scherz, in langen Thomas-Bernhard-Sätzen erst vom Impressionismus, dann vom Expressionismus, von der nächsten Ausstellung, die sie bald realisieren wollen. Dabei sitzen sie vor den Ansichts- und Glückwunschkarten des Foto-Ladens nebenan, der Rahmen ohne Inhalt verkauft.
Die Dame zwischen ihnen rührt in ihrem Kaffee, als müsste sie sich erst in den Tag hinein tasten.
Die Herren schauen drüber hinweg und verhandeln die kommende Nacht.
Entweder, sagt der eine beiden, wir bewegen uns noch. Oder wir bleiben für immer hier sitzen.
Als sie gehen, lassen sie die Zigaretten im Aschenbecher brennen.
Die Abwesenheit von Kunst, leere Rahmen in der Bilderfabrik.
Dann führt ein mittelaltes Paar einen mittelalten Hund vorbei, vielleicht aber ist es auch umgekehrt.
Und zwei Damen setzen sich. Dorthin, wo das Feuer noch ist, der Filter schon raucht. Hätten gerne Espressos. Due, natürlich.
Die eine, das erzählt sie sofort, ist gerade Omma geworden. Nennt sich selbst so, trägt diesen Titel, von den Erben verliehen. Die andere kennt das schon länger, die Blagen der Blagen im Arm. Und, fragt sie die Omma, wie wars? Kreißsaalgeschichten. Ganz neugierig ist sie, mal raus mit der Sprache. Ja, ja, schnell ging es wohl, ganz schön propper, die Kleine. Ach, watt. Ja, sicher. Vier Kilo bestimmt. So groß, die konnte gleich laufen. Sie lachen, bestellen noch Teilchen dazu. Mit Sahne, zur Feier des Tages. Herzlichen Glückwunsch, Omma. Dann löffeln sie still.
Drinnen, in der Teestube, könnte man jetzt zum Kaffee auch schon was Härteres trinken, Asti, Freixenet, Frizzante, bisschen Italien auf der Zunge. Aber der Blick muss klar bleiben, also: der nächste Kaffee. Und zurücklehnen, weil doch jetzt die ganze Belegschaft aufmarschiert, die Stammkundschaft, das wirklich großartige Volk.
Das hier, die Fußgängerzone von Mülheim, ist Deutschland. Das Land aus dem Fernsehen, den Nachrichten, den Statistiken und Umfragen. Schönen guten Tag, liebe Bundesrepublik. Und dieses Deutschland, da stimmen die Zahlen wohl, ist an diesem frühen Freitagmittag entweder schon lange in Rente oder gerade erst zugewandert. Da werden dann, auch das ein kleines Schauspiel, deutsche Großmütter mit Rollator von afrikanischen Müttern mit Kinderwagen überholt.
Die einen schon sehr alt, die anderen noch ganz neu. Hier mischt es sich. Ohne sich zu berühren.
Und man kann im Vorbeigehen problemlos Arabisch lernen, eine hastige Sprache, in Mobiltelefone gedrückt, von Männern in, Wahnsinn, Lonsdale-Trainingsanzügen, die weiter vorne ein paar Euros nach Hause schicken, mit Western Union in den Nahen Osten.
Den zuletzt viel beschworenen älteren weißen Mann gibt es hier allerdings kaum, er ist entweder schon tot oder noch in der Kneipe. Oder beides. Vielleicht ist Freitag, 13 Uhr, aber auch einfach nicht seine Zeit.
Was ebenfalls auffällt, ist die unaufdringliche Abwesenheit von Protz, Glamour, von Geld im sichtbarsten Sinn, als würde es sich verstecken vor neuen, gierigen Blicken. Mülheim, das hatte der Besucher zuvor immer wieder gehört, ist ja die Stadt der Millionäre. Die meisten in dieser Region. Sie wohnen, auch das hatte man ihm erzählt, an der Friedrichstraße. Was sich ja gleich mondän anhörte und vertraut nach Berlin. Das hier aber, die Fußgängerzone, Asti und Diva, ist selbstverständlich nicht der Laufsteg der Reichen. Viel eher ist es der Boulevard des Normalen.
Und die Herren tragen Jacken in Beige und die Damen Hosen in Weiß.
Sylt auch hier an der Ruhr nur ein Fischbrötchen weit weg.
Um die Ecke dann, bei Mr. Baker, dort steht der Besucher nun, sitzen noch mal ganz andere Leute. Drinnen die Fensterscheibenrentner, die so erwartungsfroh nach draußen schauen als könnte sich das Programm doch jederzeit ändern. Hängen hier den Gedanken nach, später ist Wochenende.
Die Zeit, sagt einer, vergeht viel zu schnell. Ein anderer, daneben, nickt.
Wem sagste was. Ratz, fatz. Schon wieder Freitag, schon wieder Markt.
Dann schweigen sie treu.
Und davor, in ähnlichem Alter, türkische Männer an Tischen, die sie zusammengeschoben haben, damit doch alle genug Platz haben. Sie tragen die Tracht der einstigen Gastarbeiter, Hemd und Pollunder und Jackett darüber, das Haar grau, die Schiebermütze abgewetzt vom ständigen Gruß, und lassen ihre Ketten, die Perlen aus Holz, durch die Finger laufen, ununterbrochen, das ganze Gespräch ein Gebet. Vor ihnen, ineinander gestapelt, umgekippt, gerade frisch befüllt, stehen die Kaffeebecher, im Dutzend, zeugen von Stunden, die goldene Bohne auf dem marineblauen Untergrund, dieses Logo, das so sehr nach Heimat aussieht, nach der Werbung der 80er-Jahre, die Krönung der Innenstadt. Die Herzen der Männer rasen, sie sprechen schnell. Vor ein paar Tagen war ihr Präsident in Köln. Sie sind seit 50 Jahren hier, sie kennen dieses Land vor allem aus Erzählungen.
Noch mal reingehört bei den Rentnern. Heike, sagt die eine nun, jetzt iset doch muckelig. Und du hast deine Winterklamotten an. Da wunderst du dich, wenn du nachher wieder erkältet bist.
Schon wieder Freitag.
Schon wieder Wetter.
Die letzten schönen Tage, sagt Heike. Die kommen jetzt. Dann nimmt sie noch einen Schluck.
Draußen Mülheim, hinten die Straßenbahnen. Ein junger Mann verlässt den Laden.
Für heute genug gehört.
Fotos: © Lucas Vogelsang