Tchibo-Studium
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Randfigur
3. Dezember 2018

Unruhrort

Zum Anker, Schimanski-Kneipe in Duisburg-Ruhrort, Bindestriche am Binnenhafen. Es ist in etwa halb Vier. Im Innenraum sind nur wenige Tisch besetzt. Am Fenster Mutter und Tochter. Daneben ein junges Paar, in die Speisekarte vertieft. Gedämpfte Gespräche, während der Nachmittag im müden Licht des Herbstes schon in den Abend zu münden scheint.

Der Wirt sitzt unbeteiligt auf einem Hocker, jeder versucht, dem anderen möglichst wenig zur Last zu fallen. Es werden die nötigen Worte gesprochen, leise, so wie man auch den Salzstreuer möglichst geräuschlos über das Holz der Tische schiebt.

In der Mitte dieses vortrefflich rustikalen Ladens allerdings sitzt eine Frau ohne Anschluss, Rentnerin ohne Pension, die Augen treten kaum merklich aus den Höhlen, der Mund steht leicht offen. Sie hat die schwere Winterjacke, falsche Daunen, früher mal weiß, jetzt von der Straße verdreckt, nicht abgelegt. Trägt eine gehäkelte Mütze dazu, einem Teewärmer gleich, als könnte sie sich hier drin andernfalls doch erkälten. Schwitzt unter der Last dieser Kleidung, der Atem geht schwer, Speichel klebt an der Lippe, in den Mundwinkeln, wie der Schaum einer Brandung. Der Blick, unruhig, fängt den Laden ein. Sie hat, seitdem sie, auf eine Krücke gestützt und mit Beuteln beladen, durch die Tür gekommen ist, noch kein Wort gesprochen.
Hat aber Durst, die Zunge so trocken.

Hat Hunger, der Magen so leer.

Vor ihr, mit Kreide geschrieben, auf bunte Bilder gedruckt, die Gerichte des Tages. An den Wänden der Kommissar- Schimanski hat, wenn er hier war, Muscheln bestellt. ARD-Allgemeinwissen.

Klar, harte Schale, weicher Kern. Kommt jeder mittelbegabte Drehbuchschreiber drauf: Meeresfrüchte als am Ende tatsächlich ausgelutschte Metapher. Jetzt gibt es hier Eiscreme. Und hundert verschiede Flammkuchen, dünn wie Papier. Dazu Ommas Frikadellen und die Schimanski-Currywurst, natürlich XL. Eintopf gibt es auch, täglich wechselt der Mittagstisch. Heute: Erbsen. Das alles steht in der Karte, aber das interessiert sie nicht mehr.

Sie stiert in die Gegend, entdeckt dann den Wirt, nimmt ihn aufs Korn. Öffnet den Mund ohne Warnung.

Watt, brüllt sie, kost der Flammkuchen? Die Frage ein Krächzen, ihre Stimme reibt über die Haut.
Der Wirt schaut auf. Der billigste, sagt er, ist Neuneurofünfzig.

Watt, sagt sie, so teuer? Schleudert ihm die Worte entgegen, vom Nachbartisch aus kann man den Speichel sehen, der erst in Luft liegt und dann auf dem Tisch wie leichter Niesel.

Na, sagt der Wirt, wir sind keine Pommesbude hier.

Sie schüttelt den Kopf. Ich habe, sagt sie, Schulden genug auf der Bank. Dann schweigt sie, zwei Minuten vergehen. Der Wirt, in Abrechnungen vertieft, scheint sie vergessen zu haben, da brüllt sie erneut.

Watt kost die Currywurst?

Fünfeuroneunzig, sagt er, monoton.
Watt, sagt sie, so teuer? Die Nachfrage noch lauter als zuvor.

Ich muss auch noch meine Wohnung bezahlen.

Er schweigt. Was soll er auch sagen.

Und sie beginnt nun, sich einmal durch die Karte zu fragen. Von oben nach unten, von morgens bis abends.

Watt kost das Frühstück?

Watt kost der Salat?
Watt kost die Suppe?

Er antwortet, nennt ihr den Preis, jedes Mal. Weiß ihre Antwort, so teuer? Schaut längst nicht mehr hoch, hört kaum noch hin.
Die beiden, das wird bald klar, machen das hier ganz sicher nicht zum ersten Mal, führen dieses Stück im Gegenteil wohl regelmäßig auf. Vielleicht sogar jede Woche, an gleich mehreren Tagen. Vor nicht ganz ausverkauftem Haus. Der eigentliche Krimi, an diesem Ort, der sich so aufdringlich seiner eigenen Geschichte bewusst ist. Sie sitzt dann hier, fragt, brüllt, geht wieder. Hat sonst keinen Ort, an dem ihr niemand mehr zuhört. Auf den Wirt aber, die klaren Regeln der Karte, kann sie sich verlassen.

Und er nimmt es hin. Harte Schale, weicher Kern, nie würde er sie vor die Tür setzen. Mit der Krücke, den kaputten Knien, ihren wirren Gedanken. Am Ende erfriert sie noch bei ihm um die Ecke, treibt morgens aufgebläht in der Ruhr. Das würde er sich doch nicht verzeihen.

So ist seine anfängliche Abneigung einer starren Routine gewichen, während sie gnadenlos geblieben ist, unfreundlich und fordernd. Schließlich bestellt sie, wie jedes Mal, ein Bier. Ist ganz erschöpft und zählt die Münzen auf den Tisch, jede einzeln. Das Metall schabt über das Holz.

So teuer, das Bier. Aber gut.

Und der Wirt geht nach hinten.

Fotos: © Lucas Vogelsang