Tchibo-Studium
19. November 2018

Zu lang

Sie sind nicht mehr da. Die Hütten, als hätte es sie nie gegeben. Wo sie standen, ist Wiese. Wo sie standen, wurden Gräben gelegt, in denen sich das Wasser jetzt sammelt. Vom Grund und aus der Luft. Land, von Spaten gezähmt. Mit dem ersten Laut steigt ein Reiher empor.

Die allumspannende Weite, das Auge stößt sich an wenig. Das war mal anders.
Nichts, sagt P. und zündet sich eine Zigarette an, stößt den Rauch in die Ankunft. Nicht viel, sage ich und warte auf den Rückblick. So stehen wir hier und wissen nicht recht, P. und ich. Doch auf der Suche. Er lehnt an seinem Porsche, metallic, minerva, hat noch Öl an den Händen, war pünktlich heute und doch ein Jahr zu spät. Etwas an ihm verschweigt mir den Rest, ich frage nicht nach. Zu lange gewartet, sagt er. Viel zu lang, sage ich. Kein Mensch, der uns stört. Ein leichter Wind nur, der geht. Dreißiger Zone hier, die Schilder werfen schon Schatten.

Hier stoßen die Städte aneinander wie tektonische Platten. Essen und Mülheim. Immer eine von ihnen, schwarz auf gelbem Grund, durchgestrichen. Je nachdem, von wo man nun schaut.

Wir stehen am Rand und schauen über eine Senke, einst bevölkert, jetzt verlassen, keine Spur mehr von dem, was gewesen ist. Erdboden, der vom Erdboden verschluckt wurde.

P. und ich, wir waren mal hier, im Nachmittagslicht zwischen Apfelbäumen, da standen sie noch. Die Hütten. Fünfzig vielleicht, mehr sogar, nicht nur von Gott verlassene Lauben. Gärten ohne Gärtner. Da fiel die Sonne hinein, schräg wie im Herbst, und brach sich an den Scherben der Fenster, an den scharfen Kanten der Zeit. Uns hatte der Zufall geführt, an diesen Ort, den man eigentlich kennen muss, um ihn zu finden. Er liegt gut geschützt hinter der Nachbarschaft. Vererbte Parzellen, geheime Gänge. Weil die Leute doch gerade dort, wo sie zusammen sind, gern unter sich bleiben.

Das ist Niemandsland hier, es atmet Vergänglichkeit.

Damals gingen wir zwischen Hecken hindurch, der Weg schon bewachsen, das Tor nur angelehnt. Und standen dann dort, vor Hütten wie ausgedacht, erstmal auch Trugbilder. Von den Rahmen blätterte Farbe. Als wir kamen, waren die Menschen schon weg.
Die Dinge aber, die es noch gab, auf den Teppichen und den Tischen, in den Schränken, aus den Fugen und aus den Angeln, waren Zeugen eines plötzlichen Aufbruchs. Die Menschen hier hatten eilig gepackt, das Nötige und das Unnötige, wahrscheinlich noch mehr. Körbe und Tüten und alte Koffer aus Pappe. Hatten, so schien es, nur mitgenommen, was sie auch tragen konnten. Den Kühlschrank und letzte Flaschen geleert, die Kerzen gelöscht, die Pumpe gestoppt.
Sie wussten Bescheid und wurden doch überrascht. Wie das so ist, wenn man es nicht wahrhaben möchte. In den Räumen lagen die Splitter der Hast, von heute auf morgen. Die Reste der Anwesenheit, Staub schon darüber. Dort lagen die Schallplatten, einige noch in den bunten Hüllen der 60er-Jahre, manche zerbrochen, andere nur zerkratzt, Fußspuren darauf. Musik, zu der man trinken konnte. Musik für all die Feste, die gefeiert werden mussten, wie sie fielen. Töne der Geselligkeit. Freddy Quinn, Fischerchöre. Weihnachtslieder. Niemals geht man so ganz.

Und wenn die Menschen verschwinden, die immer da waren, entsteht etwas anderes. Eine körperliche Leere, eine dröhnende Stille, die den Besucher anspringt, ihn schüttelt. Zurück bleibt dann ein Ort, der dir ganz ohne Worte ein Gespräch aufdrängt. Er ist geschwätzig, leutselig, er will mehr von dir wissen. Durch keine Gardinen keine Blicke, sie beobachten dich.

Etwas, das hinter Bäumen atmet. So war das auch hier. In den Ästen hing eine Schaukel wie Kinderlachen. An den Seilen die Spuren der Generationen. Auf dem Boden verfaulten die ersten Äpfel, auch sie nicht weit gefallen vom Stamm. Familiengeschichten. Und P. öffnete noch eine der Türen, jede von ihnen wieder nur eine Frage, auf die wir keine Antwort wussten.
Was war passiert? Düstere Ecken.

Draußen aber lag das Licht über der Geschichte, ganz gülden, an der Grenze zum Kitsch. Als wäre das nicht alles schon unecht genug, in diesen Drohkulissen einer Verdrängung, in dieser Endzeitillusion eines zweitklassigen Filmemachers. Der Strukturwandel immer auch Zombie-Klamotte. Die Erde entvölkert, oben keuchen die Horden, Untote, tollwütige Hunde.

Und P. hatte sich längst verliebt. In diese Hütten, in dieses Licht. Er ist, das muss man jetzt wissen, Fotograf. Er denkt in Bilden, hier dachten die Bilder für ihn. Um ihn herum tanzten die Farben. Herrlich, sagte er noch, und stolperte weiter. Jedes Tor in eine andere Welt, hinter dem nächsten Zaun der nächste König. An einem Weiher aus Plastik ein Frosch aus Ton, er spuckte Wasser, das er schon tausend Male gespuckt hatte. Es machte ihm nichts. P., die Kamera im Anschlag, schoss auch ihm ins Gesicht, Ruhrpottsafari.

Dann zog er einen der Stühle heran, eine Kartoffelkiste dazu, und wir saßen erstmal unter einem Baldachin der Einsamkeit, ließen das wirken. Es gibt ja Momente, aus denen sofort Erinnerung wird. In ihnen bewegt man sich wie durch Wasser. Sie sind rar. Dieser nun war einer von ihnen, er blieb haften. Unmittelbar.
Weil er uns, in der Abwesenheit aller anderen, mit uns selbst konfrontierte. Und weil es so war, als hätten wir ein Geheimnis gefunden, am Rand zweier Städte. Ein Ort, der angefüllt war von den Zeugen der Zeit und gerade deshalb keine mehr kannte. Ein Panoptikum der BRD. Mit dem Röhrenfernseher, diesem Lagerfeuer hinter Glas, Kulenkampff und Aktenzeichen, mit der Dartscheibe aus Holz, dem Hobbykeller im Halbschatten. Mit Barock aus Gelsenkirchen und Souvenirs vom ersten Urlaub an der Adria. Fremde, die uns an Freunde erinnern.

All das stand hier noch, all das stand im Weg.

Dieser Ort, sagte P., bleibt nicht mehr lang. Und er kletterte weiter, dem Licht hinterher, auf eines der Dächer aus Teer. Dort stand eine Couch, der Blick Panorama, über den Dingen. Dort wollten wir bleiben, am besten für immer, doch bald ging das Licht schon zur Neige. Also schworen wir uns, wiederzukommen. An einem anderen Tag. Mit dem großen Ehrenwort der Euphorie. Mit einem Kasten Bier, sagte P. Hier auf dem Dach und dann einfach nur in den Himmel schauen, bis die Nacht hereinbricht. Mit dem Schlafsack hierher und dann Sterne zählen. Das müssen wir machen. Das machen wir bald. So lang es noch geht. Ich nickte, dann gingen wir. Und kamen doch nicht zurück.
Bis jetzt. Vor uns die Bagger. Und die Hütten sind fort. Die Couch und das Dach, nichts ist mehr übrig, an der Grenze zu Mülheim, an der Grenze zu Essen. Nur ganz hinten, hinter den Gräben, steht noch eine Mauer, halbhoch, letzte Steine. Steht dort, hinter Sträuchern, von Unkraut bewachsen, wie absichtlich zurückgelassen, weil doch jeder Rückstand das Fehlen gleich greifbarer macht.

Eine Ahnung, sie zerfällt bei der ersten Berührung.

Wir haben zu lange gewartet, sagt P. Und ich nicke wie damals. Er hat schließlich recht.

Dann steigt P. in sein Auto und fährt zurück. Seine Mutter besuchen.

Fotos: © Philipp Wente / www.philippwente.com